Biografie. Madeleine Delbrêl (1904 – 1964)
Bewegte Kindheit und Jugend
Am 24. Oktober 1904 wurde Madeleine Delbrêl in Mussidan (Dordogne) geboren. Da ihr Vater Eisenbahnbeamter war und ihm die Familie an die Orte seiner häufigen Versetzungen folgte, erhielt Madeleine Privatunterricht, der ihr genügend Raum für ihre musikalischen und künstlerischen Fähigkeiten gab. In Châteauroux und Montluçon begegnete sie Priestern, die in ihr – insbesondere im Zuge der Vorbereitung auf ihre Erste Heilige Kommunion - einen einfachen und tiefen Glauben weckten. In Paris jedoch, wohin die Familie 1916 zog, begannen andere Persönlichkeiten aus dem atheistischen Literaturkreis ihres Vaters auf die künstlerisch hoch begabte Madeleine Einfluss zu nehmen. Die erst Sechzehnjährige belegte an der Sorbonne Vorlesungen in Philosophie und Geschichte und widmete sich künstlerischen Studien in Montparnasse. Zu dieser Zeit erhielt, wie sie im Rückblick schildert, „die INTELLIGENZ den ersten Platz auf meiner Stufenleiter der Werte. (...) Mit fünfzehn war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder.“
Innere Wandlung einer jungen Frau
Madeleine Delbrêls intellektueller Atheismus geriet durch mehrere Faktoren ins Wanken. Zunächst war es die Begegnung mit christlichen Kommilitonen, die dazu beigetragen haben, dass Madeleine die Existenz Gottes im 20. Jahrhundert nicht mehr von vornherein als unzeitgemäß ablehnte. Als ihr Freund Jean Maydieu sich dann überraschend von ihr trennte, um ein Jahr später in den Dominikanerorden einzutreten, drängte sich ihr die Frage nach Gott endgültig auf. Ein Wort von Teresas von Avila, man solle jeden Tag fünf Minuten still an Gott denken, gab ihr den entscheidenden Anstoß auf dem ersten Weg zur Kontemplation: „Lesend und nachdenkend habe ich Gott gefunden, aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass er mich findet und dass er die lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt“ Über das eigentliche Bekehrungserlebnis von 1924 sprach sich Madeleine kaum, und nur mit tastenden Worten aus. Die Begegnung mit der karmelitischen Mystiktradition in den Schriften Teresas von Avila und die Beschäftigung mit Johannes vom Kreuz wird dazu beigetragen haben, dass sich Madeleine nach ihrer Bekehrung mit dem Gedanken trug, in den Karmel einzutreten. Doch führten äußere Umstände, vor allem die erschwerte Familiensituation durch die Erblindung ihres Vaters, Madeleine zu dem Entschluss, ein Leben nach den evangelischen Räten inmitten der Welt zu leben. Sie gab ihre Studien auf, engagierte sich als Leiterin einer Pfadfindergruppe in ihrer Gemeinde und begann eine Ausbildung als Sozialarbeiterin.
Gemeinschaftsleben, soziales Engagement und konkrete Nächstenliebe
Mit einigen gleich gesinnten Frauen gründete Madeleine Delbrêl eine kleine Gemeinschaft. 1933 zieht sie mit zwei Gefährtinnen nach Ivry, einer kleinen Arbeiterstadt. Es ist die erste Stadt, die von Kommunisten regiert wird. Madeleine findet guten Kontakt zu den Verantwortlichen. Madeleine ist begeistert von deren Einsatz für die Arbeiter, um deren hartes, entbehrungsreiches Leben zu ändern. Sie spielt mit dem Gedanken in die kommunistische Partei einzutreten. Doch die Erkenntnis, dass die Kommunisten neben der Liebe zu den Arbeitern Hass gegen Andersdenkende säen, hält sie davon ab. Sie unterstützt deren Bewegung „Ausgestreckter Arm“ und gerät dadurch in die Kritik der Amtskirche und der Traditionskatholiken, die sich von den Arbeitern abschotten.
Mit der Kirche, aber auch gegen den Strom
Madeleine Delbrêl nahm weiterhin Einfluss auf den Aufbau des überdiözesanen Priesterseminars in Lisieux, aus dem viele Arbeiterpriester hervorgingen. Sie war – als Frau und Laie! – eine der ersten, die vor Priesteramtskandidaten, die aus allen Diözesen Frankreichs zusammengekommen waren, Vorträge über ihre Erfahrungen hielt, die sie inzwischen während der zehn Jahre im kommunistischen Arbeitermilieu von Ivry gesammelt hatte. Als nach anwachsenden Spannungen das Experiment der Arbeiterpriester 1954 von Rom untersagt wurde, schlug sich Madeleine weder auf die eine, noch auf die andere Seite, sondern versuchte vermittelnd auf beiden Seiten Verständnis zu wecken. Die Lösung dieser Frage, welche die ganze französische Kirche betraf und belastete, sah sie in einem verstärkten Gebet. Auch wird sie zur Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils herangezogen. Als Madeleine Delbrêl am 13.Oktober 1964 an einem Schlaganfall überraschend starb, war sie über den Kreis ihrer Freunde hinaus nur wenigen bekannt. Heute sind ihre Schriften jedoch in mehr als acht Sprachen übersetzt.
1 - Zu folgenden Ausführungen vgl. insbesondere Boehme, Katja: „Alles ist nur die Rinde einer herrlichen Realität.“ Zur Mystik Madeleine Delbrêls (1904-1964). In: Anja Middelbeck-Varwick/ Markus Thurau (Hg.): Mystikerinnen der Neuzeit, Frankfurt 2009, 175-192.
2 - Delbrêl, Madeleine (1975): Wir Nachbarn der Kommunisten. Diagnosen. Übertragen von Hans Urs von Balthasar, eingeleitet von Jacques Loew, Einsiedeln, 263.
3 - Delbrêl, Madeleine (2006): Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott. Übertragen von Hermann Josef Bormann und Ruth Disse, eingeleitet von Katja Boehme, 2. erw. Ausgabe, Freiburg i. Br., 194.